Der christliche Glaube und die Postmoderne

1. Geschichtliche Entwicklung

Um zu verstehen, was postmodernes Denken ist und weshalb es heute unsere Gesellschaft prägt, hier zunächst einmal ein kurzer Abriss der europäischen Geistesgeschichte seit der Reformation.

Die Reformatoren lehrten, dass der Mensch als Ganzes gefallen ist und nur durch das Werk Christi gerettet werden kann. Für sie gibt die Offenbarung Gottes in der Bibel allem seinen Sinn: dem Menschen als nach Gottes Bild geschaffenem Wesen, und allen Dingen als Schöpfung Gottes, die er dem Menschen anvertraut hat.

Indem man sich neu an der Bibel orientierte, konnte man den Menschen verstehen – einerseits seine Großartigkeit (weil er ein Geschöpf Gottes ist), andererseits seine so problematischen und destruktiven Seiten (weil er gefallen ist). Und man hatte eine überwältigende Hoffnung auf der Basis des Evangeliums von Jesus Christus.

Die Bibel gibt uns Kenntnis von beidem, dem Universalen (Gott) und dem Partikularen (dazu gehören der Mensch, und die übrige Schöpfung). Weil Gott gesprochen hat, haben wir hier die entscheidenden Antworten – nicht auf alle uns interessierenden, aber doch auf die entscheidenden Fragen. Dieses Wissen erarbeitet sich der Mensch also nicht selbst, sondern er ist angewiesen auf den Gott, der redet.

Die naturwissenschaftliche Forschung nahm ab der Zeit der Reformation so richtig Fahrt auf und brachte bald noch nie dagewesene technische Fortschritte mit sich. Anders als in anderen Kulturen, wurde die Natur als Schöpfung Gottes angesehen, und der sich in der Bibel offenbarende Gott ermutigt den Menschen dazu, seine Schöpfung zu erforschen, und diese Kenntnisse zu nutzen. So verstanden, ist auch Wissenschaft eine Sache des Glaubens, und nicht autonom von der biblischen Offenbarung. In diesem biblischen Denkrahmen bewegten sich auch Forscher wie Kopernikus, Galilei, Kepler, Faraday und Maxwell.

Parallel zur Reformation verlief die Renaissance. Hier orientierte man sich weniger an der biblischen Gottesoffenbarung als an den Philosophen der Antike, wobei nicht mehr Gott sondern der Mensch im Mittelpunkt des Denkens stand. Man hoffte, der Mensch könne Wahrheit auch ohne göttliche Offenbarung erkennen, nur kraft seiner Vernunft. Die menschliche Vernunft wurde also autonom, unabhängig von Gott und seiner Offenbarung.
Später versuchte man dann im Rahmen von Rationalismus und Aufklärung, ohne göttliche Offenbarung ein Gesamtbild der Wirklichkeit zu erhalten. Wer sich näher mit bspw. Descartes und Kant beschäftigt erkennt aber, dass diese Versuche scheiterten. Dieses Scheitern führte nun aber nicht zu einer Rückbesinnung auf die zur Seite gelegte biblische Offenbarung, sondern letztlich zur Resignation. Hegels dialektische Philosophie wurde zwar bewundert, ist aber eine Bankrotterklärung. Seine trügerische Hoffnung auf eine Synthese, die die Gegensätze umschließt, war der erste entscheidende Schritt weg von dem Denken in Antithesen, das annimmt, dass gegensätzliche Aussagen nie gleichzeitig wahr sein können.
Indem Hegel die Möglichkeit der Synthese aus These und Antithese einführte, relativierte er letztlich alles, und wurde somit der philosophische Vordenker der Postmoderne. Allerdings sollte es noch dauern, bis sich diese im Denken der breiten Masse durchsetzte.
Meist dachte man weiterhin nicht „postmodern“, sondern „modern“, das heißt in einander ausschließenden Gegensätzen. Im Bereich der naturwissenschaftlichen Forschung hatte sich das bewährt, und es entspricht auch der allgemeinen Lebenserfahrung.

Der Glaube an die menschliche Fähigkeit, letztlich alles erforschen und erklären zu können, war nach wie vor verbreitet. Allerdings zeigten sich zunehmend die Probleme dieser Denkweise, sowohl im wissenschaftlich-technischen Bereich, als auch in der Politik.

In Wissenschaft und Technik gab es mangels Gottesbezug kein Halten, keine moralischen Grenzen mehr. Das führte einerseits zu einer Entwürdigung des Menschen, der durch ein rein materialistisches Denken auf seinen Körper reduziert und zur Maschine wurde. Und andererseits zur zerstörerischen Ausbeutung der Natur.
Im politischen Bereich beanspruchten Ideologien wie Nationalismus, Imperialismus, Kapitalismus und später Kommunismus absolute Gültigkeit. Es zeigte sich aber schnell, dass ihre Heilsversprechen trügerisch waren; sie führten im Gegenteil zu nie dagewesenem Unheil, etwa den beiden Weltkriegen, und im Kommunismus zur Diktatur einzelner Tyrannen wie Stalin und Mao, oder zur Herrschaft einer korrupten Elite. Jeweils verbunden mit sehr viel Leid für die Menschen in den betroffenen Ländern, in Form von Unterdrückung, Gehirnwäsche, und großen wirtschaftlichen Problemen.

Man muss die Postmoderne verstehen als Reaktion auf all diese Negativ-Erfahrungen mit der Moderne.

2. Wichtige Vertreter der Postmoderne

Ein erster wichtiger Vertreter der Postmoderne, der diesen Begriff auch prägte, war Jean-François Lyotard. Er betonte, man dürfe „den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenken“. Als „Meta-Erzählungen“ bezeichnet er Religionen, Ideologien, … letztlich alles, was den Anspruch erhebt, dem Leben Sinn und Bedeutung zu geben, oder die Lösung gesellschaftlicher und politischer Probleme verspricht. Er wollte diese großen Narrative durch Mini-Erzählungen ersetzen, die nur noch kleine, persönliche „Wahrheiten“ umfassen. Damit richtete er sich u.a. gegen den christlichen Glauben, den Marxismus und die Wissenschaft. Auch letztere ist für ihn immer mit Politik und Macht verknüpft, weswegen sie keinen Anspruch auf Objektivität erheben darf.
Lyotards Philosophie liegt ein expliziter erkenntnistheoretischer Relativismus zugrunde – ein Glaube an persönliche oder kulturelle Wahrheiten oder Fakten, der dafür eintritt, „gelebte Erfahrungen“ über empirische Nachweise zu stellen. Daraus folgt ein Pluralismus, welcher den Ansichten von Minderheiten den Vorzug vor wissenschaftlichem Konsens und liberaler Ethik gibt, da diese autoritär und dogmatisch seien. Dieser Gedanke ist ein zentraler Aspekt postmoderner Theorien.

Michel Foucault betrachtet die Menschen als kulturell konstruiert: „Das Individuum, mitsamt seiner Identität und all seinen Charaktereigenschaften, ist das Produkt eines Machtverhältnisses, welches über die Körper, Bewegungen, Begehren und Kräfte herrscht.“ Es bleibt nahezu kein Spielraum für individuelle Autonomie. Er stützt sich auf einen Glauben an die inhärente Bösartigkeit bestimmter Klassen oder beruflicher Rollen, ungeachtet der Moralität ihres individuellen Handelns. In diesem Licht erscheinen liberale Demokratien als ebenso repressiv wie der mittelalterliche Feudalismus, weswegen Foucault zur Kritik an Institutionen aufruft, die angeblich – gut verschleiert – „politische Gewalt“ ausüben.
Bei Foucault zeigt sich eine besonders extreme Variante des Kulturrelativismus. Er beschreibt Machtstrukturen, in denen Mitmenschlichkeit und Individualität nahezu gänzlich fehlen. Stattdessen konstruiert sich der Einzelne laut Foucault durch sein Verhältnis zur dominanten gesellschaftlichen Idee entweder als Unterdrückter oder Unterdrücker. Damit beeinflusste Foucault u.a. Judith Butlers Queer Theory, die sich mit dem kulturell konstruierten Wesen von Geschlechterrollen beschäftigt. Was ebenso aus diesem Denken folgt, ist die Gleichsetzung von Sprache mit Gewalt.

Jacques Derrida schließlich entwickelte das Konzept der „Dekonstruktion“. Er fokussierte sich noch stärker als seine Vorgänger auf die Sprache. Sein bekanntester Ausspruch: „Es gibt kein Außerhalb des Textes“ verdeutlicht seine Annahme, Wörter hätten keinen unmittelbaren Bezug zum beschriebenen Gegenstand.
Jede Klassifikation von Menschen, Tieren etc. war für ihn ein unzulässiger Gewaltakt. Das gilt für die Klassifikation von Menschen in Männer und Frauen genauso wie für die Unterscheidung von Menschen und Tieren.

Grundlage der postmodernen Theorie ist immer die Annahme, dass Sprache keine schon vorhandene Wirklichkeit beschreibt, sondern diese Wirklichkeit erst schafft. Es gibt also z.B. nicht schon vorgegeben Mann und Frau, sondern diese Begriffe sind Ausdruck eines Machtstrebens, das Frauen unterdrückt.

Konsequenterweise definiert der Verfasser eines Textes auch nicht dessen Bedeutung. Leser und Zuhörer bilden sich eigene Meinungen, die alle gleichwertig sein sollen. Die Intention des Redners ist für Derrida irrelevant. Von Bedeutung ist nur die Auswirkung der Rede. Das bewirkt eine Überempfindlichkeit gegenüber Sprache sowie die Vorstellung, dass die Intention eines Redners weniger wichtig ist als die Rezeption, egal, wie weit hergeholt die Interpretation der Aussagen ist.
Konkret bedeutet das z.B.: wenn ein syrischer Geflüchteter einen Mord begeht, darf nicht gesagt werden, dass der Täter ein syrischer Geflüchteter ist. Wichtig ist nicht, ob diese Aussage wahr ist, sondern nur, dass sie Ausländerfeindlichkeit anstacheln könnte.

3) Kritik

Werte wie die Meinungsfreiheit werden als naiv und repressiv betrachtet, weswegen eine moralische Notwendigkeit bestehe, diese zu zerschlagen. Eine viel größere Relevanz wird den gelebten Erfahrungen, Erzählungen und Vorstellungen „marginalisierter“ Gruppen beigemessen.

Während die postmodernen Akademiker und Aktivisten überall böse, repressive Macht erkennen und bekämpfen zu müssen meinen, haben sie für die eigene repressive Macht kein Bewusstsein. Für Außenstehende ist sie jedoch offensichtlich.

Wissenschaft wird oft abgelehnt mit Argumenten wie: „Die Wissenschaft wurde schon immer genutzt, um Rassismus, Sexismus, … und Homophobie zu legitimieren – alles als rational und faktisch verpackt und durch den Staat legitimiert. Heutzutage gibt es so gut wie nichts, das wir als Fakt betrachten können.“ Die in Südafrika unter den Hashtags #ScienceMustFall und #DecolonizeScience laufende Studentenbewegung verkündete, die Wissenschaft sei nur eine akzeptierte Möglichkeit, die Welt zu verstehen. Die Hexerei sei eine gleichwertige Alternative.

Das postmoderne Denken war ursprünglich nur politisch links zu verorten. Aber auch der Rechtspopulismus ist oft faktenfrei. Auch er lebt von Narrativen und übt diskursive Macht aus, um seine Gegner zu delegitimieren, statt zu debattieren. Donald Trumps “alternative Fakten” sind kein Zufallsprodukt, sondern die Antwort ehemals Konservativer auf die Welle der Postmoderne. Ehemals, denn diese Konservativen haben im Erlernen der neuen Regeln und Fertigkeiten eine Metamorphose durchlaufen, der ihnen exakt den Boden unter den Füßen wegzog, den sie zu verteidigen beabsichtigten: Ihre Werte. Auch Trump, Le Pen etc. sind durch und durch postmoderne Gestalten. Sie vertreten ganz andere Inhalte und verfolgen andere Ziele als ihre politischen Kontrahenten, aber sie vertreten sie in derselben Form, mit denselben Methoden und mit demselben Konzept von “Wahrheit” – und eben dies sind die Strukturen, in denen die Postmoderne existiert.

Letztlich hebt sich das postmoderne Denken jedoch selbst auf. Es verlangt von uns als absolute und bindende Wahrheit anzuerkennen, dass es keine absolute und bindende Wahrheit gibt.

Die Konsequenz ist, dass eine Elite (gleichgültig welche Ideologie sie vertritt) den Menschen vorschreiben kann, was sie zu denken und zu tun haben.
Das ist heute schon sehr deutlich zu sehen am Beispiel von „Gender Mainstreaming“. Mit der Gendertheorie gelangte erstmals eine faktenfreie Theorie zur allgemeinen politischen Geltung. Ihr Merkmal ist ausschließlich die Dekonstruktion des Bestehenden, nämlich der Geschlechterbinarität, und sie wurde machtpolitisch von oben nach unten durchgesetzt.

4. Fazit

Gerade an der Postmoderne wird sehr deutlich sichtbar, dass der Mensch, wenn er die Gottesoffenbarung in der Bibel ablehnt, keine verbindliche Wahrheit und keine verbindlichen Werte mehr hat. Dadurch ist er vollkommen wehrlos gegenüber allen, die Macht haben und diese missbrauchen. Denn er hat dann keinen verbindlichen Maßstab mehr, mit dem er ihr Verhalten messen kann. Somit ist jeder Kontrolle von Macht der Boden entzogen, und wir enden wieder bei der Willkürherrschaft des Stärkeren.

Hier noch ein sehr treffendes Zitat des christlichen Philosophen Robert Spaemann: „Die Alternative kann nie lauten: Wissenschaftliche Erklärbarkeit der Welt oder Gottesglaube, sondern nur: Verzicht auf Verstehen der Welt, Resignation der Vernunft oder Gottesglaube. Der Rationalismus der Aufklärung ist längst dem Glauben an die Ohnmacht der menschlichen Vernunft gewichen, dem Glauben, dass wir nicht das sind, wofür wir uns halten, vernünftige, freie selbstbestimmte Wesen. Der christliche Glaube hat den Menschen zwar nie für so vernünftig und so frei gehalten, wie es die Aufklärung des 18. Jahrhunderts tat. Er hält ihn aber auch nicht für so unvernünftig und so unreif, wie die heutige materialistische Wissenschaftsgläubigkeit es tut. Und er traut der Vernunft, der ratio, eine größere Reichweite zu. Ratio heißt sowohl Vernunft als auch Grund. Die materialistische Weltanschauung hält die Welt und damit auch sich selbst für grundlos und irrational. Der Glaube an Gott ist der Glaube an einen Grund der Welt, der selbst nicht grundlos, also irrational ist, sondern „Licht“, für sich selbst durchsichtig und so sein eigener Grund.“

Hier noch zwei Weblinks zum Thema. Diesen Texten habe ich einige wichtige Gedanken entnommen.

https://www.novo-argumente.com/artikel/wie_der_postmodernismus_die_aufklaerung_abwickelt

https://www.begruendet-glauben.org/articles/christlicher-wahrheitsanspruch-im-zeitalter-des-postmodernismus/page3

Die Postmoderne ist auch stark vom fernöstlichen Denken und den dortigen Religionen beeinflusst. Mehr dazu, und zu weiteren Aspekten der Postmoderne, in den Buchzusammenfassungen zu Francis Schaeffer und Vishal Mangalwadi.

Die christliche Antwort auf das postmoderne Denken ist in jedem Fall der Ruf zu Christus. Wie von Karl Heim in seinem Buch „Versöhnung und Weltvollendung“ formuliert: Christus deshalb,

  • Weil wir ohne ihn Gott nicht erkennen und verstehen können. Der menschliche Optimismus, Gott durch unser Denken erkennen zu können, ist verflogen – das schafft eine neuen Offenheit für die Möglichkeit einer Offenbarung „von außen“.
  • Weil er die einzige Autorität ist, der wir unser Leben unterstellen können. Unsere Welt ist so kompliziert und konfrontiert uns mit so vielen Entscheidungen, dass kein System von Regeln und Gesetzen uns hier die nötige Orientierung geben könnte. Wir brauchen einen persönlichen Führer, der uns unmittelbar führt.
  • Weil er allein uns mit Gott versöhnen kann.